Annäherung (2008)

Erzählt in Text und Bildern von den Zirkusschulwochen zweier siebenter Klassen einer Hauptschule in Berlin Neukölln. Die Arbeit entstand 2007/2008. Veröffentlicht 2008 in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ und in Ausstellungen (www.tulip-photo.de; Café Sibylle, Berlin).

 

© Conny Höflich, aus der Arbeit "Annäherung" © Conny Höflich, aus der Arbeit "Annäherung"
© Conny Höflich, aus der Arbeit "Annäherung" © Conny Höflich, aus der Arbeit "Annäherung"
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© Conny Höflich, aus der Arbeit "Annäherung" © Conny Höflich, aus der Arbeit "Annäherung"

 

Eigentlich wollte ich gar nicht im Zirkus fotografieren. Ich hatte feste Bilder und Reportagen über „den“ Zirkus unserer Zeit im Kopf und wusste nicht, was ich dem an Neuem hinzufügen könnte. Doch dann erfuhr ich von Zirkus-Projektschulwochen, in denen zirkusfremde Schulklassen eine Woche lang in einem Zirkus trainieren und am Ende das Gelernte in einer Vorführung zeigen. Im Gegensatz zum „herkömmlichen“ Zirkus interessierte mich diese Form des „integrierten“ Zirkus sehr. Die Welten würden sich vermischen, aus Zuschauern würden Künstler, und ich war neugierig zu erfahren, wo zirkusfremde Kinder nach einer Woche Zirkustraining ankommen.

Auf meiner Suche nach Zirkus-Projektschulwochen in Berlin stieß ich auf den Zirkus Cabuwazi. Dieser Zirkus bietet derzeit ausschließlich Projektschulwochen für Schulen aus so genannten Problembezirken Berlins wie Kreuzberg und Neukölln an. Im November 2007 erhielt ich in diesem Zirkus die Möglichkeit, die Zirkus-Projektschulwochen zweier siebenter Klassen einer Neuköllner Hauptschule fotografisch zu begleiten.

An meinem ersten Arbeitstag treffe ich im Zirkuszelt ein, als die Schüler bereits eine Einführung durch die vier Zirkuslehrer erhalten. Danach teilen sich die Jugendlichen in Gruppen, um die verschiedenen Trainingsstationen wie Trapez und Seiltanz kennen zu lernen. Ich werde den vier Klassenlehrerinnen vorgestellt. Für den ersten Tag habe ich mir „lediglich“ Beobachten vorgenommen. Ich lerne achtzehn Schüler und Schülerinnen im Alter zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren kennen, die als Gruppe sehr energiegeladen wirken. Mich überrascht der herzliche Umgang der Lehrerinnen mit den Kindern und auch der Respekt der Kinder ihren Lehrerinnen gegenüber. Sehr viele Kinder stammen ihrem Äußeren nach aus Familien nicht-deutscher Herkunft, und die Lehrerinnen bestätigen mir, dass erstmals in diesem Jahr alle Kinder dieser beiden Klassen aus Familien mit Migrationshintergrund kommen. Die meisten seien arabischer Herkunft, zwei Kinder stammen aus der Türkei, zwei Mädchen aus Serbien und ein Junge aus Tschechien. In vielen Familien werden vermeintliche Klischees bedient. Nahezu alle Familien leben teilweise oder vollständig von Hartz IV. Ein Mädchen wohnt zusammen mit ihren zwei kleineren Geschwistern und ihren Eltern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. In einer anderen Familie ist ein Mädchen eines von zehn Kindern. Die meisten Eltern sprechen, obwohl sie schon jahrelang in Deutschland leben, nicht deutsch. Eine der Lehrerinnen erzählt mir, vor einigen Jahren habe sie sich noch strikt geweigert, Benachrichtigungen an die Eltern übersetzen zu lassen. Heute lässt sie übersetzen, um überhaupt einen Kontakt zu den Eltern herstellen zu können. Ich frage, warum auf achtzehn Kinder vier Lehrerinnen kommen. Dieser Personalschlüssel sei bei den Kindern notwendig, und sogar damit ist das Unterrichten noch sehr anstrengend. In diesem Schuljahr wird auch erstmals nicht stundenweise getrennt nach Fächern unterrichtet, sondern in Form von fächerübergreifendem themenorientierten Lernen, kurz FTL: zu einem vorgegebenen Thema wird alles zusammengetragen, was zu diesem Thema passt. Derzeit würden die beiden Klassen unter dem Thema „Helden“ Pippi Langstrumpf lesen und dabei zum Beispiel besprechen, welche Tiere in dem Land von Pippi Langstrumpf leben, die es bei uns nicht gibt.

Die Kinder sind mir gegenüber offen und neugierig. Die Übungseinheiten an den verschiedenen Stationen machen Vielen Spaß, auch wenn fast alle immer wieder angehalten werden müssen, sich zu konzentrieren. Am Ende des ersten Tages muss sich jeder für zwei der acht Disziplinen entscheiden, an denen er dann bis zur Vorführung arbeiten wird. Für mich ist am Ende des ersten Tages klar, dass ich nicht wie ursprünglich geplant mit Kamerasystemen arbeiten kann, mit denen ich auf ein genaues Arbeiten bedacht wäre. Das scheint mir bei der Energie und Ungeordnetheit um mich herum nicht möglich.

Am zweiten Tag beginne ich daher, mit zwei kleinen leisen Kameras zu arbeiten, mit denen ich sehr beweglich und so unauffällig bin, wie ich es eben als fremde Person sein kann. Mir sind die Jugendlichen allesamt sympathisch, und es macht mir Spaß, ihnen bei ihrer Arbeit zuzusehen. Am Ende dieses Tages kann ich mir gar nicht vorstellen, erst zwei Tage mit ihnen verbracht zu haben. Zum Ende dieses Tages treten aber auch erste schwere Konzentrations- und damit Disziplinprobleme auf, die sich in den folgenden Tagen wiederholen sollen. Am Minitramp springen alle durcheinander. Einer der Zirkuslehrer schreit wütend, er hätte keine Lust, ins Gefängnis zu gehen, sollte einer der Schüler bei dieser Toberei verunglücken. Wahrscheinlich ist der Reiz des Neuen weg, sagen die Zirkuslehrer. Ein Zustand, den ich sehr gut kenne.

Am Ende des dritten Tages kommt es dann zu einer Zerreißprobe. Einer Schülerin ist das Portemonnaie gestohlen worden. Da sich der Dieb nicht freiwillig meldet und das Portemonnaie auch nach längerem Suchen nicht gefunden wird, trifft der hauptverantwortliche Zirkuslehrer folgende Entscheidung: wenn das Portemonnaie bis zum folgenden Morgen nicht wieder da ist, wird das Projekt abgebrochen. Ich bin ziemlich betroffen von der Konsequenz dieser Entscheidung und habe das Gefühl, auch den Schülern ist das nicht recht. Im Gegensatz zu den vorherigen Tagen lösen sie sich nicht in kleine Gruppen auf und fahren nach Hause sondern bleiben diskutierend vor dem Zirkuszelt stehen. Sie sprechen zum Teil arabisch, so dass ich sie nicht verstehen kann. Nachts träume ich von einigen der Kinder und fahre am nächsten Morgen gespannt zum Zirkus. Kann ich weiterarbeiten? Gehe ich mit in die Schule, wenn das Zirkus-Projekt abgebrochen wird? Im Zirkus angekommen erfahre ich, dass das Portemonnaie in der Nähe des Zirkusgeländes wiedergefunden wurde und freue mich sehr darüber.

In den kommenden Tagen wird das Training wegen mangelnder Disziplin noch zweimal zeitweise abgebrochen, aber zu der wirklichen Gefahr eines vorzeitigen Projekt-Abbruchs kommt es nicht mehr.

Die Klassenlehrerinnen ärgern sich manchmal darüber, dass vor allem die Mädchen in so unzweckmäßiger Kleidung zum Training erscheinen. Statt Turnschuhen Absatzstiefel, statt Jogginghose enge Jeans. Ich muss auch darüber schmunzeln, kann mich aber sehr gut an die beinahe alles überragende Wichtigkeit des Äußeren in meiner Jugend erinnern, von der ich auch heute noch nicht ganz frei bin. Auch bei den Jungs spielt die Selbstdarstellung und das „Wie“ des Gesehenwerdens eine ungemein große Rolle. Sobald ich den Fotoapparat auf einen der Jungs richte und von ihm bemerkt werde, begibt er sich in eine Stärke demonstrierende Pose. Einmal bittet mich ein Junge, ihn während der Übung an einem Kunststück, dass er noch nicht sehr gut beherrscht, nicht zu fotografieren. Und auch später in der Schule, als ich den Kindern die Bilder zeige, werde ich manchmal gefragt, ob sie auf diesem oder jenem Bild schön aussähen als Kriterium dafür, ob sie dieses Bild von sich haben wollen oder nicht.

Früher fiel mir die Abgrenzung gegenüber anderen sehr schwer, und erst durch meine Kinder habe ich gelernt, wie wichtig es ist, die Dinge, die man möchte und nicht möchte, auszusprechen. Die Erfahrung mit meinen Kindern hat mir auch geholfen, gegenüber den Schülern in bestimmten Situationen, die ich früher akzeptiert hätte, NEIN zu sagen. So kommt es anfangs mehrfach vor, dass eines der Kinder mir die Kamera entreißen will, um selber ein Bild zu machen. Ich gebe deutlich zu verstehen, dass das NICHT geht. Auf die völlig überraschte Frage, warum denn nicht, erkläre ich, dass das mein Werkzeug ist, dass ich nicht weiterarbeiten kann, wenn die Kameras kaputt gehen. Sie respektieren es, und später können sie in meinem Beisein damit fotografieren.

Am Ende der ersten Woche staune ich, welche Fähigkeiten die Jugendlichen in dieser kurzen Zeit erlernt haben. Lediglich bei einem der Mädchen weiß ich nicht, wie die Arbeit weitergehen soll. Ihr fällt es schwerer, Kunststücke zu erlernen, sie spürt den Unterschied zu den Anderen und reagiert oft trotzig. In einer Pause beobachte ich sie beim Tanzen zu arabischer Musik: dass ist so schön, dass ich gar nicht genug davon bekommen kann, und auch die anderen Mädchen machen ihr bereitwillig Platz. Ich erzähle einer der Klassenlehrerinnen davon, und sie meint, wenn sie nur einigermaßen sicher wäre, dass das Mädchen bis zur Aufführung durchhält, würde sie die Vorführung eines Tanzes sehr unterstützen. Das „Aufgeben“ (immer wieder der Satz „das kann ich nicht“) sei ein großes Problem vor allem mit den Kindern aus „Problembezirken“, erzählt mir eine Zirkuslehrerin. Sie hätte erlebt, wie ein Junge mitten in der Vorführung einfach gegangen wäre, weil er dachte, ausgelacht zu werden, als ihn das Publikum begeistert auf die Bühne rief. Und auch während „unserer“ Aufführung werden einige Kinder mitten in ihrer Darbietung aufhören, weil ihre Vorführung nicht so läuft, wie sie es sich gewünscht haben.

Da die Jugendlichen jünger als achtzehn Jahre alt sind, muss ich die Eltern bitten, mir das Veröffentlichen von Bildern ihrer Kinder schriftlich zu gestatten. Dafür gebe ich allen Kindern ein entsprechendes Schreiben mit nach Hause. Die Klassenlehrerinnen machen mir wenig Hoffnung, dass ich, sei es aufgrund der Zerstreutheit der Schüler, sei es aufgrund von Desinteresse der Eltern, die Zustimmungen zurückbekommen werde. Zu meiner großen Freude erhalte ich aber von sechzehn der achtzehn Schüler die schriftliche Einverständniserklärung, auch wenn ich manche Kinder täglich daran erinnern muss und einige Briefe erst nach Beendigung des Projekts eintreffen.

Am Tag der Aufführung freue ich mich schon beim Aufstehen sehr auf das, was mich heute erwartet. Die Kinder sind aufgeregt und während der Aufführung nicht hinter der Bühne zu halten. Alle wollen sehen, wie die Vorführung der Anderen läuft, und es kümmert sie nicht, dass sie dabei den Vorhang verlassen und dann selbst gesehen werden. Die Freude und der Stolz nach einer geglückten Vorführung sind manchmal gewaltig, und ebenso die Enttäuschung und Wut, wenn etwas nicht klappt. Nach der Vorführung höre ich unter den Kindern mehrfach, die Vorführung sei nicht gut gewesen. Mir hat sie sehr gefallen, und später erzählen mir die Klassenlehrerinnen, dass mit zeitlichem Abstand auch die Schüler stolz auf sich waren.

Was bleibt nach diesen zwei Wochen? Für die Schüler nach Aussage der Klassenlehrerinnen und den Erfahrungen der Zirkuslehrer eine gute Zeit, jedoch ohne die erwünschte Nachhaltigkeit. Aus diesem Grund plant der Zirkus für das nächste Jahr eine Streckung des Trainingszeitraums über ein halbes Jahr. Langfristig werden nur wenige Schüler nach Beendigung der Schule eine Ausbildung beginnen können. Die meisten werden entweder „jobben“ oder einfach „nichts tun“, Aussichten, die die Klassenlehrerinnen zutiefst frustrieren. Eine der Lehrerinnen meint, dass sie oft die einzigen Deutschen seien, mit denen die Kinder positive Erfahrungen machen.

Was bleibt für mich? Ich war sehr gern mit den Schülern zusammen, habe ihre Jugend genossen, ihr Temperament. Einmal hatte ich ein ungutes Gefühl, als zwei Jungs sich mit Palästinensertüchern vermummt von mir fotografieren ließen, ich dachte, in einigen Jahren wird daraus vielleicht bitterer Ernst. Wenn ich jetzt durch Kreuzberg oder Neukölln gehe, habe ich einen Teil meiner Scheu und Unsicherheit gegenüber den türkischen und arabischen Jugendlichen verloren. Ich sehe plötzlich in ihnen diejenigen, die ich im Zirkus kennen gelernt habe, sie erhalten Gesichter, Namen und eine Geschichte. Ich für meinen Teil habe positive Erfahrungen gemacht.

» Text und Fotografie, veröffentlichte Arbeiten