Erinnerung an eine Sommerreise (2014)

Arbeit in Text und Bildern über eine Sommerreise nach Rumänien. Entstanden 2013. Veröffentlich 2014 in „Zeit online“.

 

© Conny Höflich, tableau "Erinnerung an eine Sommerreise"

 

Rumänien. Warum? Habt Ihr Verwandte dort? Kommt gesund wieder. So und ähnlich reagieren Freunde und Bekannte auf unser diesjähriges Reiseziel. Woher kommt diese Angst? In den Informationen des Auswärtigen Amtes steht nichts von Gefahr und auch der gerade erworbene, knapp siebenhundert Seiten zählende Reiseführer beschreibt nichts dergleichen. Also fahren wir an einem Morgen Ende Juni los, mit unseren drei Kindern und dem Auto. Durch Prag, vorbei an Bratislava und Budapest. Am Morgen des dritten Tages Ankunft am Grenzübergang Nădlac im Westen Rumäniens, an Tag achtzehn Ausreise über Petea, einem Grenzübergang im Nordwesten des Landes.

Zwischen Ein- und Ausreise liegen Tage des Entdeckens, Tage der Ruhe, Tage langer Überlandfahrten und immer wieder Sehen und Hören in einem fremden Land. Rumänien hat Berge und Meer, Donaudelta, sanfte Hügellandschaften und weite Ebenen. Großstädte und Dörfer, einige Autobahnen, Landstraßen, gelegentlich Schlaglöcher, viele Tiere, freundliche Menschen.

Unser erstes Ziel ist Transsilvanien, genauer gesagt Vale, ein Dorf nahe Sibiu. Spaziergang zum anderen Ende des Ortes, Geruch früher Kindheit, meine Urgroßeltern lebten in einem Dorf bei Halle. Bună ziua. La revedere. Es ist schön, in Landessprache grüßen zu können.

Auf unseren Spaziergängen und Fahrten begegnen wir immer wieder alten und oft traditionell gekleideten Menschen. Sie sitzen vor ihren Häusern oder gehen langsam die Dorfstraße entlang. So, als haben sie unendlich viel Zeit, als genießen sie Abend und Lebensabend und haben die Last, tätig sein zu müssen, ruhigen Gewissens abgelegt.

Auch die alten Häuser beeindrucken mich. Manche lassen die Lebensfreude derer, die vielleicht einmal darin gelebt haben, nur noch erahnen. Andere erzählen ihre Geschichte frisch gestrichen neu.

Zwischen den alten moderne Häuser. Ich hätte sie wohl übersehen (wollen), wenn mich unser Reiseführer nicht auf diesen Kontrast vorbereitet hätte. Ebenso kontrastreich das Nebeneinander von Pferdefuhrwerken und Autos, und neben den alten nicht zu vergessen die jungen Leute, deren Aussehen und Auftreten mich an die jungen Leute bei uns erinnern.

Auf unseren Ausflügen auch immer wieder Begegnung mit Zeugnissen deutscher Geschichte. Deutsche Bürgerhäuser in Sibiu, ehemals Hermannstadt. Deutschsprachige Gedenktafeln in einer ehemaligen Wehrkirche, rechts und links des Ganges entlang der Bänke. „Für die Gefallenen des Weltkriegs von 1914 – 1918.“ Darunter die Namen Simon Löw, Martin Roth. „Für die Opfer des Weltkriegs 1939 – 1945.“ Darunter die Namen Simon Loew, Martin Roth. Deutsche Grabinschriften auf einem verlassenen Friedhof. Jüngstes Sterbejahr 1990. Ein Stein nur mit den Geburtsjahren. Vielleicht für Menschen, die schon nicht mehr in Rumänien gestorben sind.

In der Wehrkirche begegnen wir erstmals und indirekt Zigeunern. Der deutsch sprechende Küster erzählt von einer Kirche im Nachbardorf, sie sei durch Zigeuner vollständig leergeräumt. Sie trügen alles, was nicht niet- und nagelfest sei, hinaus und verfeuern es. Wir fragen nach: Umherziehende Zigeuner? Bedauern: Nein, die bleiben. Auf einem Parkplatz kommen bettelnde Zigeuner-Kinder auf uns zu. Nach erhaltenem Kleingeld und Nein auf die Frage nach Schokolade verabschieden sie sich von unserer kleinen Tochter und gehen fröhlich ihrer Wege. Später, dann schon im zweiten Teil der Reise, werden wir in einer Stadt mit dem märchenhaften Namen Babadag Zigeuner-Familien sehen. Die jungen Frauen und Mädchen mit langen, schwingenden Röcken und leichtem, stolzem Gang. Wie leben und was denken Zigeuner? Ich weiß kaum etwas über sie.

Tagesausflug ins Fagaras-Gebirge. Passieren der Baumgrenze. Schnee im Juli, Abfahrt durch Wolken. In einem Dorf, in dem viel gebaut wird und das in wenigen Jahren vielleicht aussieht wie ein Skiort westeuropäischer Prägung, eine kleine, schmächtige, aber nicht alte Frau, die ihre Kühe über die Straße treibt.

In den Dörfern frei lebende Hunde, einzeln oder in kleinen Gruppen. Ihr Gang ist eigenständig, ihr Verhalten interessiert, neugierig. Aber auch schüchtern. Wenn wir näher kommen wollen, gehen sie weg.

Unser letzter Nachmittag in Transsilvanien, unsere Kinder spielen mit den Kindern der Nachbarfamilie, wir Mütter kommen ins Gespräch. Unsere Nachbarin fragt, wie mir Rumänien gefällt,  sagt, ihr Land habe in Europa keinen guten Ruf, von Rumänen denke man, sie seien schlechte Menschen, Mörder oder zumindest Diebe. Sie erzählt, manche Gäste sind bei ihrer Anreise ängstlich und fahren mit wunderbaren Erlebnissen nach Hause.

Für die zweite Woche beziehen wir Quartier in einem alten Fischerhaus in Jurilovca, einem Dorf im Osten Rumäniens, zwischen Schwarzem Meer und Donaudelta. Ein früher Morgen im Hof des Hauses, die Sonne ist bereits aufgegangen und kündigt einen Tag an ebenso heiß wie die vergangenen. Ich nehme Wäsche von der Leine. Aus dem Nachbargarten klingt in schnarrenden, undeutlichen Tönen westeuropäische Popmusik unterbrochen von einer rumänischen Radiostimme. Weiter weg erwachende Dorfgeräusche. Dennoch das Gefühl von Stille, der Gedanke, an einem der Enden der Welt zu sein.

In einer Mittagpause laufe ich allein durch das Dorf. Fotografiere kaum, will keine Bilder „stehlen“. Mehrmals möchte ich fragen, ob ich fotografieren darf. Aber mein Rumänisch hat sich lediglich um das Wort Mulțumesc erweitert. Überhaupt, die Sprache. Ich komme mit einer Frau in Kontakt, die beim Abschied Auf Wiedersehen sagt, langsam und angestrengt mir zu Ehren gesprochen. Das Hören dieser Worte macht mich plötzlich sehr glücklich.

An einem Abend auf der Dorfstraße. Wir begegnen Kindern unterschiedlichen Alters, die sich um einen Jungen mit Tablet-PC versammelt haben. Eine Ecke weiter, auf Bänken rechts und links der Straße, sitzen alte Männer und Frauen, getrennt. Vielleicht sitzen die alten Männer und Frauen in Rumänien immer getrennt. Aber was weiß oder besser was erfährt man von einem Land, dessen Sprache, dessen Kultur und Gebräuche man nicht kennt? Wie oft muss man etwas gesehen haben, um sagen zu können, so ist es (gerade)?

Das Meer. Liest man unseren Reiseführer schnell und oberflächlich, gewinnt man den Eindruck, die rumänische Schwarzmeerküste sei überfüllt von Menschen und hässlich zugebaut. Gut, denke ich, fahren wir eben nicht ans Meer. Liest man genauer, und fährt man vor allem doch, entdeckt man (zumindest im Norden) einsame Sandstrände soweit das Auge reicht. Wir fahren auf Wunsch der Kinder zweimal abends, und die dort verbrachten Stunden zählen zu den erholsamsten unserer Reise. Die Sonnenstrahlen schon schräg, aber noch wärmend, das Wasser mild und weniger salzig als Ostsee oder Mittelmeer. Feiner Sand, Steine, Muscheln. Ab und an ein Zelt, ein Pferdewagen, der geduldig auf seinen Kutscher wartet, ein Pärchen, das mit dem Auto bis an den Strand herangefahren ist, Musik hört, Abendbrot isst, sich ausruht, badet.

Einmal fahren wir mit dem Auto an das Donaudelta heran und lassen uns mit einem Motorboot über den südlichsten der drei Donauarme ins Delta fahren. Ein weites Gebiet. Seen, verbunden durch mal breitere, mal schmalere, teils verschlungene Wasserarme. Schilf. Teppiche aus Seerosen. Bäume, deren Wurzeln aus dem Wasser ragen. Vögel, Frösche, einmal am Ufer ein Hausschwein. Stille. Wäre da nicht das Tuckern unseres Motors. Unser Bootsführer fährt wiederholt an Pelikan- und Kormorankolonien heran, um sie aufzuschrecken. Er möchte, dass wir sehen können, wie sich die Vögel in die Luft erheben, und ruft uns freudig zu: Paradies. Uns beschleicht ein schlechtes Gewissen.

Ein lauter Knall, im Rückspiegel eine dahinrollende Radkappe, lautes Zischen am rechten Hinterrad. Wir haben eines der viel beschriebenen Schlaglöcher getroffen und einen Reifenschaden. Was tun? Es ist kurz nach 17 Uhr. Vulcanizare haben wir unterwegs schon oft gesehen, nur wie lange haben sie geöffnet? Wir versuchen unser Glück in der achtzehn Kilometer entfernten Stadt Tulcea und haben es. Eine Werkstatt direkt am Straßenrand, ein kleiner drahtiger Mann, aus dessen Augen Erfahrung spricht. Er besieht sich den Schaden, behebt ihn ohne große Worte. Bitteschön, siebzehn Lei (vier Euro). Wir wollen ihm fünfzig Lei geben, er wehrt ab, weist wieder auf seine in den Staub des Autoblechs geschriebene Zahl. Wir versuchen, uns auf Englisch zu erklären, sagen, bei uns wäre es teurer gewesen. Er nimmt das Geld schließlich schulterzuckend an.

Über den Norden des Landes fahren wir nach Hause. Sanfte hügelige Landschaften, viele Klöster. Das Kloster Voronet, dessen erhalten gebliebene Kirche auch Sixtinische Kapelle des Ostens genannt wird, besuchen wir. Die Kirche, ihre Schlichtheit, das Blau gefallen mir, und die Wände mit den dicht an dicht gemalten Bildern beeindrucken mich, auch wenn ich wenig weiß über das Woher und Warum dieser Bilder. Die Art des Nebeneinander erinnert mich an dicht an dicht gehangene Kinderzeichnungen.

Noch weiter nördlich wieder bergig. Es ist früher Nachmittag, unser Ziel Săpânța, das Dorf mit dem Lustigen Friedhof. Eine Straße mit Schlagloch an Schlagloch. Laut Navigationsgerät liegen einhundertfünfzig Kilometer ohne Umgehungsstraße vor uns. Kurvige Strecke, feiner Sprühregen setzt ein, wir fahren in Wolken hinein. Später können wir nicht genau sagen, wie lange die Straße kaum befahrbar war, wir schätzen, fünfzig Kilometer. Sie beschert uns die einzigen Minuten dieser Reise, in denen uns das Lachen kurzzeitig vergeht, und einen Bremsschaden, der später in Ungarn behoben werden wird.

Am Abend erreichen wir Săpânța. Das Haus, in dem wir übernachten, erzählt mit seinen Möbeln, den  Rauchspuren über Ofenklappen, seinen Bildern und Fotografien von vergangenem Leben. Vielleicht war es einmal Wohnort für die Familie unserer Vermieterin. Am nächsten Morgen besuchen wir den Lustigen Friedhof. Laut unserem Reiseführer berichtet der Tote dort in Text und Bildern und oft auf humorvolle Weise von Arbeit, Freud und Leid seines Lebens. Zu meinem Bedauern können wir die Inschriften auf den blauen Holzkreuzen nicht lesen, aber anhand der Bilder raten wir, von wem erzählt wird.

Vor dem Lustigen Friedhof ein verwaist aussehender Briefkasten. Da wir anderthalb Autostunden später das Land verlassen werden, die letzte Möglichkeit, Postkarten aus Rumänien nach Hause zu schicken. Sie werden zwei Wochen nach uns in Deutschland eintreffen.

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