Gerda L. erzählt (2025)

Anfang März 2025 im Rahmen der Portraitreihe „hier bin ich geboren“ unter dem Titel „Mädel, lass es sein“ in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ erschienen. Teil der Arbeit „hier bin ich geboren“ (Arbeitstitel, work in progress).

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Einmal bin ich zu Mama gegangen.

Ich sage, „Mama, ist die Ruth“, die Ruth war eine Nichte meiner Mutter, „ist die Ruth eine Jüdin? Die hat doch auch so eine krumme Nase“. Da hat sie gesagt, „um Gottes Willen, das ist doch keine Jüdin. Du weißt doch, das ist doch die Tochter von der Bertha und vom Hans“.

Als ich geboren wurde, war Hitler schon drei Jahre Reichskanzler. In Drebkau wurde ich geboren, das liegt in der Niederlausitz, der Vater war in der Mühle beschäftigt, meine Mutter war zu Hause, und da lebten wir die ersten zwei Jahre. Dann hat mein Vater die Mühle seiner Schwiegermutter übernommen, in Schönwalde, das liegt östlich der Oder, und wir sind nach Schönwalde gezogen.

Zu der Mühle in Schönwalde gehörte eine Bäckerei, die wurde von meinem Onkel betrieben, dem Bruder meiner Mutter, Familie mit zwei Kindern. Wenn wir früh runterkamen, aus den Schlafzimmern, mussten wir an der Bäckerei vorbei, und da bekamen wir erst mal jedes ein Stück Kuchen, und dann gingen wir in die Küche zur Oma, und da gab’s dann Frühstück.

Dann wurde Vater eingezogen, die Mühle wurde von einem Polen, Anton, weitergeführt. Und dann kam noch Lena, die war aus Warschau, und später kamen noch Rene und Leo, aus Frankreich. Wenn man sich das vorstellt, die wurden dort rausgerissen aus ihren Familien und nach Deutschland geschickt, und „Hier hast Du jetzt zu arbeiten“. Der Leo, der hat mir das Radfahren beigebracht. Ich hatte vier Kilometer bis zur Schule und musste das lernen.

Dann kam der Krieg auch zu uns. Ich bin mit dem Rad zur Schule gefahren, und wenn Fliegeralarm kam, mussten wir nach Hause. Und ich war immer so aufgeregt, dass ich kaum aufs Fahrrad kam, und dann sagte Tante Martha immer, „nun ist zu spät, jetzt kommt schon der Hauptalarm, nun musste mit zu uns in den Keller“.

Und dann, im Februar 1945 mussten wir aus Schönwalde fliehen. Wir sind unten aus dem Dorf raus, und oben kam schon die russische Armee rein. Ich weiß noch, als wir dann wieder in Drebkau angekommen waren, musste die Mutter auch mal unsere Leibwäsche waschen, da haben wir nackig im Bett gelegen, bis das wieder trocken war. Einmal, im Oktober 1945, saß ein Mann vor dem Haus auf der Bank. „Mama, sag mal dem Mann, ich will vorbei“ hat meine kleine Schwester gesagt, sie war zwei Jahre alt. Der Mann war unser Vater.

Mit sechzehn hatte ich keine Lust mehr auf Schule.

Das war 1952, unser Vater hatte sich selbstständig gemacht, und mit dem Geld wurde es sehr knapp. Ich ging in Weißenfels zur Oberschule und hatte dann immer kein Geld mehr, und dann habe ich gesagt, “jetzt reichts“ und habe die Schule nach der zehnten Klasse beendet. Bin wieder nach Hause, nach Drebkau, und habe mir dort Arbeit gesucht. Erst mal zwei Jahre bei einem Zahnarzt. Der wollte mich dann aber nicht zur Lehrlingsprüfung zulassen, und da habe ich gesagt, „Du kannst mich mal“ und habe mir eine Beschäftigung im Rathaus gesucht, als Verwaltungsangestellte. Und da habe ich dann schönes, richtiges Geld verdient, das erste Geld, das ich da verdient habe.

Mein Vater war ein bisschen enttäuscht von mir, er wollte, dass ich nach dem Ende der Schule zu Hause bleibe und die Buchführung und das mache. Und das habe ich nicht gemacht. Weil ich selber meinen Weg wollte, ich dachte, nee, ich will doch nicht hier zu Hause vergipsen und darauf warten, bis ein Mann kommt und mich heiratet oder so. Er hatte ja auch schon welche für mich ausgesucht, die kamen dann immer Skat spielen, und, das wollte ich nicht.

Ich habe dann im Abendstudium meinen Facharbeiter nachgemacht, Facharbeiter für Finanzwirtschaft, in der Volkshochschule, und bin dann in ein Baukombinat nach Cottbus als Finanzbearbeiter gegangen. Und dann habe ich irgendwie Lust gekriegt, dachte, „Du kannst noch mehr“ und habe die Finanzschule Gotha gemacht. Habe dann weiter im Baukombinat gearbeitet, als Finanzbearbeiter, Chemiefaserwerk in Guben, Textilkombinat in Cottbus, alles sehr große Baustellen, da mussten wir Finanzer immer raus und mussten dort die Revision machen.

Ein sehr guter Kollege hat mich dann abgeworben, und ich bin zum Ingenieurbüro für Bauwesen in Cottbus gegangen, zuerst als Finanzbearbeiter, und dann habe ich die Kaderabteilung übernommen, als Kaderleiter. Ich habe dann neunzehn Jahre als Kaderleiter gearbeitet. Bis zum Jahr 1989, bis zur Wende.

Ach ja, zwischenzeitlich habe ich noch den Hochschulabschluss gemacht, 1975, als Diplomwirtschaftler. Ich dachte, „irgendwie kannst du noch mehr“.

„Mädel, lass es sein.“

Das hat mein Vater gesagt, als ich gefragt wurde, ob ich nicht in die SED eintreten will. Da war ich noch beim Rat der Stadt, in Drebkau. Und ich war eigentlich überzeugt, dass der Sozialismus was Gutes ist, und da man nun ja praktisch Staatsangestellte war, habe ich das eigentlich auch als meine Verpflichtung angesehen. Wir hatten im Stadtrat von Drebkau zwar auch die anderen Parteien, CDU und NDPD, aber die waren eben in der Minderheit, von denen war immer nur einer, und von der SED, da waren mindestens drei, vier. Der CDU-Stadtrat, der hat dann immer gesagt, „Na ja, ich hab‘ ja nischt zu sagen. Meine Meinung gilt ja nicht“.

Mein Vater hat nur gesagt, „Mädel, lass es sein“. Warum er das gesagt hat, weiß ich nicht. Er hatte zeitweilig schlechte Erfahrungen gemacht mit der Staatssicherheit, vielleicht hing das damit zusammen. Von Welzow, vom Flugplatz, kamen immer die Russen und haben ihm Benzin verkauft. Die durften das nicht verkaufen, und unser Vater durfte das nicht kaufen. Aber es war eben günstig, günstiges Geschäft, da hat er das gemacht. Und da sind die dahinter gekommen, und dann ist er nach Dresden gefahren zu meiner Schwester und hat da ein paar Tage gelebt, weil er Angst hatte, er wird hier inhaftiert oder so.

Ich war dann immer stellvertretender Parteisekretär für unseren Betrieb, und jeden Monat hatten wir eine Versammlung bei der Kreisleitung. Und der Parteisekretär aus einem anderen Betrieb, der hat zum Beispiel dann gefragt, „warum gibt’s den und den Wein bloß im Delikat, warum gibt’s den nicht in den Geschäften, unsere Bevölkerung will auch den guten Wein trinken“. Und so viele Sachen. Der hat die immer laut angesprochen. Und der Sekretär der Kreisleitung, der die Versammlung gemacht hat, der konnte ja darauf auch keine Antwort geben. Der hat dann immer bloß gesagt, „ich gebe das weiter. Ich gebe das weiter“. Ich selbst hab’s nicht angesprochen. So ein, ein Frontkämpfer war ich eigentlich nicht, muss ich sagen.

Heutzutage musst du dich um so viel kümmern.

Im Gesundheitswesen und, mit den Bildungsmöglichkeiten, das war alles geregelt, und heutzutage musst Du rennen und bitten und machen.

Klar, natürlich haben wir manchmal stundenlang angestanden nach besonderen Sachen, gerade vor Weihnachtsfesten, „Oh, da gibt’s wieder Bananen“, und „da gibt’s Apfelsinen“, und „kann ich für meine Kolleginnen was mitkriegen?“ Klar. Aber das war schon bald alltäglich geworden. Du hast dich darüber gar nicht erst groß aufgeregt.

Auch mit dem Geld bin ich besser zu Recht gekommen. Heutzutage weißt du gar nicht, was auf dich zukommt, das war, da gab’s eben keine Miterhöhung, da gab’s keine Stromerhöhung, oder, der Reisetarif, der war günstig. Acht Pfennige haben wir, glaube ich, immer bezahlt für einen Kilometer oder so. Also das war äußerst günstig, da konntest du rumreisen, wie du wolltest.

Bis einundsechzig sind wir am Reformationstag auch immer rüber gefahren, nach Westberlin. Bei uns war ja Feiertag und dort Geschäftstag, und bei Tante Vikusch konnte ich Geld tauschen. Habe mir schöne Schuhe dort gekauft. Und habe mir dort auch ein Medikament geholt, das hat mir wirklich geholfen, gegen Schilddrüse. Das hatte mir mein Doktor in Drebkau verschrieben, sagte, „holen Sie sich das Medikament in Westberlin“, das waren vier Ampullen, und das hat er mir dann gespritzt, und dann wars gut. Dass ich dann später nicht mehr rüber fahren konnte, hat mich nicht gestört. Ich hätte gerne meine Tante besucht, Tante Martha, die wohnte inzwischen im Westen. Aber ich wusste, es geht nicht und ich darf’s nicht, und dann war’s gut. Sie ist dann ab und an zu uns gekommen, wir haben uns dann hier getroffen.

Klar gab’s auch viele Schweinereien.

Wenn ich an die Bauern denke, zum Beispiel, die haben die Eier zu hohen Preisen an die VEAB verkauft, VEAB, das war der Volkseigene Erfassungs- und Aufkaufbetrieb, und haben dann aus dem Laden die vom Staat preisgestützten Eier zurückgekauft.

Einmal, bei Wahlen, hatten wir ein Problem mit einer Frau, der Mann war bei uns Stadtrat, und seine Frau war Bibelforscher oder so, und die war, aus ihrem Glauben heraus, nicht zur Wahl gegangen. Die haben wir zigmal besucht am Wahltag, und immer wieder gebeten, und sie soll doch, wenigstens ihres Mannes wegen. „Nein, nein, nein, nein“. Und, sie wurde dann aus der Wählerliste gestrichen, hat nicht mitgezählt.

In den Westen hätte ich nicht gewollt. Aus unserem Betrieb sind ja im Sommer 1989 auch auf einmal viele weggeblieben. Ich dachte immer, „Mensch, die sind doch verrückt, sich so ins Ungewisse zu begeben“.

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