hier bin ich geboren: Matthias R. erzählt (2025)
Anfang Mai 2025 im Rahmen der Portraitreihe „hier bin ich geboren“ unter dem Titel „Meine Resonanzfrequenz war das Programmieren“ in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ erschienen. Teil der Arbeit „hier bin ich geboren“ (Arbeitstitel, work in progress).
Ich wurde 1958 geboren, in Berlin Köpenick.
Meine Mutter war bei meiner Geburt 29, mein Vater 35. Beide haben den Krieg miterlebt, meine Mutter als Kind, mein Vater sogar noch als Soldat. Er hatte Glück, wahrscheinlich wirklich, weil er in der Ausbildung dort Lungenentzündung gekriegt und den Krieg im Lazarett überlebt hat. Ich hab´ später mal seinen Wehrpass gesehen, da stand drin, dass er sich im Januar 1946 wieder bei der Armee melden soll.
Wenn ich an meine frühe Kindheit denke, erinnere ich mich an Spielen auf dem Hof. Wir wohnten in Schöneweide, und da war das Haus, Teil eines Karrees, und auf der Innenseite war so ein Hof mit Spielplatz, und da war ich also ständig. Und dann kann ich mich auch erinnern, dass wir jedes Jahr, oder fast jedes Jahr, an der Ostsee waren, in Boltenhagen, weil dort meine Großeltern wohnten, also die Eltern meines Vaters, und die haben wir immer besucht im Sommer. Das war natürlich schön. Gibt wahrscheinlich noch mehr an Erinnerungen, aber es ist nicht so leicht, das jetzt hervorzukramen.
Dann kam die Schule.
Und die hat mir eigentlich immer Spaß gemacht, also ich bin eigentlich gern zur Schule gegangen. Und ich war auch gern Pionier, ich fand das toll, mit so einem Halstuch da rumlaufen, und man hat dann mit anderen Kindern irgendwas gemacht nach der Schule, fand ich toll.
In der achten Klasse ging es mit FDJ weiter, und da fing ich an nachzudenken, und da fiel mir auf, dass das vielleicht doch alles gar nicht so toll ist. Da bin ich dann etwas kritischer geworden. Das ist so schrittweise gegangen, ich glaube, durch den Vergleich zwischen den Sachen, die man im Unterricht über den Sozialismus gelernt hat, und den Beobachtungen in der Wirklichkeit. Das kam mir immer merkwürdiger vor, wie wenig die Sachen eigentlich übereinstimmen. Also das Primäre ist ja immer die Ökonomie, wurde ja so gelehrt, und die Überlegenheit des Sozialismus zeigt sich eben auch gerade in der Ökonomie. Das war sozusagen die Bedingung der Theorie. Und ansonsten konnte man sich vielleicht streiten, wo das gerechter zugeht und so weiter, aber gerade in der Ökonomie konnte man jedenfalls die Überlegenheit ja nun überhaupt nicht sehen. Das war offensichtlich. Das heißt, durch einfache Beobachtung konnte man Gegenbeispiele finden. Und damit, eine Theorie, für die es ein Gegenbeispiel gibt, die ist wertlos. Die kann nicht stimmen. Ich glaube, das war so der Anfang der Überlegung.
In der Achten sprach der Mathelehrer mich an.
Ich könnte mir überlegen, zur Neunten an die Heinrich-Hertz-Schule zu wechseln. Das wäre so eine spezielle Schule mit mehr Matheunterricht. Mathe war auf jeden Fall mein Lieblingsfach, und ich müsste dann aber eine Aufnahmeprüfung machen und so weiter. Habe das meinen Eltern erzählt, die fanden das auch gut, und dann bin ich zu dieser Aufnahmeprüfung gegangen und bin dann zur Hertz-Schule gekommen.
Es waren nur vier Jahre, aber das sind wahrscheinlich DIE vier Jahre mit den im Verhältnis meisten Erinnerungen überhaupt. Also das war, war einfach eine tolle Zeit.
Da gab´s auch so ein paar Spezialitäten, unter anderem Hausschuhe, man MUSSTE also dort Hausschuhe mitbringen und dort anziehen. Wahrscheinlich wollten sie einfach die Reinemachkräfte sparen, aber das schaffte natürlich auch eine besondere Atmosphäre. Und dann gab´s ganz viele Klassenfahrten, ich glaube, jedes Jahr haben wir zwei Klassenfahrten gemacht. Und der Unterricht war gut. Natürlich gab´s auch Unterschiede, aber da war eben sehr viel Mathe und Naturwissenschaften, Physik. Und Programmierung lernte man dort – das Wort Informatik gab´s da noch nicht, aber im Prinzip war es das – und das waren alles Sachen, die mich angesprochen haben. Natürlich gab es auch Staatsbürgerkunde und diese ganzen Sachen, aber gut, das war halt so. Und Mathe überdeckte das für mich, ich glaube, es waren neun Stunden Mathematik pro Woche.
In dieser Zeit machte ich mir dann auch Gedanken zum politischen System, sozusagen als zweiter Schritt nach den Gedanken zur Ökonomie. Und dann habe ich da auch Sachen gefunden, die nicht stimmen. Aber, es gab ja auch viel gute Sachen. Also das war ja eben diese Schwierigkeit, das war jetzt irgendwie kein Regime, wo man sagen kann, dass alles schlecht war und sofort abgeschafft werden muss, und, also war jetzt nicht so wie Nazis, sage ich mal. So kann man es ja nicht sagen. Aber man merkte halt zunehmend Sachen, wo die Theorie nicht mit der Praxis übereinstimmte. Und wo sozusagen galt: Alle sind gleich, aber manche sind gleicher. Und das, obwohl ich damals „Die Farm der Tiere“ noch nicht gelesen hatte. Und irgendwann kam dann so die Überlegung, dass mir eigentlich gar nicht mehr klar war, wieso das eigentlich überhaupt funktionierte, also wieso es so was wie die DDR eigentlich überhaupt gab. Was mir, glaube ich, bis zum Schluss nicht ganz klar geworden ist. Aber das war so eine Entwicklung, die passierte in dieser Zeit. Ich glaube, am Ende der Schulzeit war das so weit gefestigt, dass mir klar war, dass das irgendwie nicht ewig so weitergehen wird.
Armeezeit.
Da gibt´s natürlich viel zu erzählen, anderthalb Jahre habe ich gemacht, zu drei Jahren habe ich Nein gesagt. Ich kam zu den Grenztruppen. Das erste halbe Jahr Ausbildung, das war sehr hart, weil sozusagen alles, was da ablief, irgendwie darauf ausgerichtet war, die Leute dazu zu bringen, bedingungslos zu gehorchen. Das heißt, man wollte den Willen brechen. In dem einen Jahr an der Grenze war´s dann verhältnismäßig ruhig. Man kriegte aber im Gegensatz zur Ausbildung scharfe Munition, das heißt, da musste ich mir Gedanken machen, was mache ich jetzt damit? Erschieße ich jetzt jemand, wenn der da ankommt? Oder nicht? Und da habe ich mir vorgenommen natürlich, niemanden zu erschießen, weil, ich wollte niemanden umbringen. Und hab´ dann auch Vorbereitungen getroffen, bei irgendwelchen Schießtrainings habe ich dann immer so eine bestimmte Quote danebengeschossen, damit sozusagen bekannt ist, dass ich nicht besonders gut schieße.
Ich habe danach Physik studiert.
In Berlin, Humboldt-Uni, fünf Jahre. Ein Drittel war Physik, zwei Drittel Mathematik. Also der Schwerpunkt war letztendlich witzigerweise sogar Mathematik. Aber vor dem Hintergrund Anwendung in der Physik. Insofern war das eigentlich perfekt.
Nach dem Studium hatte ich noch keine richtige Ahnung, was ich eigentlich machen wollte. Das war normalerweise so, die erste Arbeitsstelle wurde einem einfach besorgt. Und was da für mich in Frage kam oder vorgesehen war, das wollte ich auf keinen Fall machen. Das fand ich also völlig doof, langweilig.
Und dann habe ich nachgefragt, was ist, wenn ich mir selber eine Stelle besorge. Akademie der Wissenschaften wäre toll. Also bin ich da hingefahren, nach Adlershof und bin dort in die verschiedenen Institute gegangen, einfach reingegangen und habe gefragt, ob sie nicht einen angehenden Physiker suchen. Und in jedem Fall waren sie freundlich und haben sich mit mir da unterhalten. Und dann, das letzte Institut, auch auf dem Gelände, war das Institut für Kosmosforschung. Und die haben sich dann so ein bisschen bedeckt gehalten und haben gesagt, ich würde erfahren, ob sie mich nehmen würden oder nicht. Und da habe ich dann noch ein- oder zweimal nachgefragt, und die haben weiter so ein bisschen rumgedruckst, und irgendwann haben sie mich dann genommen. Später habe ich erfahren, warum die so lange gebraucht haben. Das war so ein spezielles Institut, Weltraumtechnik, Kooperation mit der Sowjetunion, mit dem Weltraumprogramm, das unter spezieller Aufsicht war, und die haben bei der Stasi Erkundungen über mich eingeholt, also ob ich sozusagen unauffällig genug war, um da arbeiten zu dürfen.
Mit Physik hatte ich da gar nicht mehr so viel zu tun, und das war mir im Grunde genommen auch recht. Weil, ich hab´ im Physikstudium gemerkt, dass meine eigentliche Resonanzfrequenz nicht die Physik ist, sondern Programmieren. Und das mache ich eigentlich auch seitdem.
Kurzzeitig war ich auch im Neuen Forum.
So ´88, ´89, meine Frau wusste das, die Kinder waren ja noch klein. Und an und für sich fand ich das spannend, weil mir klar war, DDR geht nicht mehr lange so weiter, man muss irgendwas Neues machen. Aber die Erfahrung mit den Leuten dort war, sie waren sich alle einig, wogegen sie waren, und sie waren sich auch alle einig, dass es freie Wahlen geben musste, und das war aber das Ende der Einigkeit. Was man dann als Neues machen wollte, da gab´s also mindestens so viele Meinungen wie Leute.
Später, in der Zeit nach dem 9. November, war dann schnell klar: Egal, was da im Neuen Forum diskutiert wurde, es wird sowieso nix. Weil, es interessierte einfach keinen mehr. Das war so ein Aha-Erlebnis. Vor der Wende, wenn man da so teilweise mitgemacht hat, da hatte man das Gefühl, das ist das Volk, sozusagen, das ist die Mehrheit, die wollen jetzt was Neues machen. In Wirklichkeit war´s gar nicht die Mehrheit, es war nur eine Minderheit, und die Mehrheit wollte eigentlich in den Westen.
» hier bin ich geboren, Text und Fotografie