hier bin ich geboren: Peter S. erzählt (2025)

Anfang April 2025 im Rahmen der Portraitreihe „hier bin ich geboren“ unter dem Titel „Das schlimmste Raubtier auf der Welt“ in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ erschienen. Teil der Arbeit „hier bin ich geboren“ (Arbeitstitel, work in progress).

 

2025_Höflich_hier-bin-ich-geboren_Peter-S_BEGLEITBILD

In Zeuthen bin ich geboren,

1951, kann mich aber nicht mehr an Zeuthen erinnern. Meine ersten Kindheitserinnerungen sind, dass ich mit einem Krankenwagen ins Krankenhaus kam, und dass mich meine Mutter und eine Freundin meiner Mutter im Krankenhaus besucht haben, hinter einer Glasscheibe.

Meine Mutter hat ihr Leben lang gearbeitet, zuerst als Schaffner und später als Fahrerin, in Köpenick, bei der Straßenbahn. Ich kann mich erinnern, dass ich mitgefahren bin, ich war ja nicht im Kindergarten, und immer die Straßenbahnhaltestellen angesagt habe, über Lautsprecher. Und dann habe ich da mal einen Groschen gekriegt oder da mal einen Sechser, das war mein erstes selbst verdientes Geld.

Die zweite Kindheitserinnerung? Dass ich nach Hause kam und zum Einkaufen geschickt wurde und fünf Mark verloren habe und eine wahnsinnige Tracht Prügel bekam. Mein Vater lebte da schon nicht mehr. Mein Vater, der ist, da war ich drei, da ist er gestorben. War Kriegsversehrter, kam krank aus dem Krieg wieder und hat dann auch nicht mehr lange gelebt.

Und dann bin ich eingeschult worden.

Also, wenn meine Mutter Frühschicht hatte und früh um drei zu Hause losging und ich allein zur Schule musste, bin ich auf dem Weg zur Schule immer abgebogen. Dann flog die Schulmappe über den Zaun, und ich bin scharwenzeln gegangen. Ich fand das so besser. Weil, man wurde sowieso nur geärgert. Von den Lehrern, von anderen Schülern.

Schule war plötzlich Zwang. Und damit bin ich nie fertig geworden, mit diesem Zwang. Meine Mutter hat mich eigentlich auch darin bestätigt, weil, sie ist arbeiten gegangen, kam zu keiner Elternversammlung, sie fragte nicht „zeig mir mal Dein Hausaufgabenheft“ oder so. Wenn schlechte Zensuren kamen, das war nicht gut, und manchmal gabs eine Backpfeife, aber sie hatte eigentlich damit zu tun, uns durchzubringen.

Ich bin dann nach acht Jahren mit Sechste-Klasse-Abschluss aus der Schule raus, habe als Friedhofsgärtner angefangen, bin in eine Druckerei gewechselt, dann als Schlosser zu den Verkehrsbetrieben, dann Schlossergehilfe auf Montage bei Bergmann-Borsig. Alles ungelernt. Und so, wie ich in der Schule war, so war ich damals auch auf Arbeit. In der Druckerei, zum Beispiel, wenn ich mal einen zu viel getrunken hatte, war es mir egal, ob ich am anderen Tag arbeiten ging oder nicht. Und eigentlich hat mich damals ja auch alles angekotzt, so mit siebzehn, achtzehn. Haare lang wachsen gelassen, Musik gehört, die nicht in die Gesellschaftsordnung passte, also absolut nicht passte, eigentlich nur aufmüpfig gewesen. Treffpunkt war immer Endhaltestelle in Schmöckwitz, und wenn wir dann mal weit gefahren sind, bis Bahnhof Köpenick, da haben wir dann Kondome mit einer Wasserpumpe aufgefüllt und haben die Leute damit beworfen. Bis die sich beschwert haben, über uns. Wir mussten irgendwo auffallen. Aus der Reihe tanzen. War alles Opposition, als Jugendlicher bist du einfach dagegen. Dagegen, dagegen, dagegen. Teilweise bin ich heute noch so.

Und dann hat ein kleiner Polizist, ein Abschnittsbevollmächtigter mich mal angesprochen, hat gesagt, „Du kannst ja machen, was Du willst, aber es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder kriegst Du Dein Leben jetzt in die Reihe, oder Du wirst irgendwann mal im Jugendwerkhof verschwinden. Wenn Du schon nicht lernen willst, dann geh wenigstens regelmäßig und pünktlich arbeiten.“ Und das hat mir dann doch sehr zu denken gegeben. Warum der mich angesprochen hat, weiß ich nicht. Später, als ich als Meister gearbeitet habe, habe ich das verstanden. Wir hatten ja niemals die Aufgabe, die Leute zu entlassen, sondern wir sollten sie ja umerziehen. Jedenfalls hat der mit mir Tacheles geredet, und irgendwo muss dann mal ein Schalter klick gemacht haben.

Ich hab dann später, da hab ich schon im Funkwerk gearbeitet, die zehnte Klasse nachgeholt, vier Tage die Woche, abends, fünf Stunden oder so, war eine harte Zeit, wirklich eine harte Zeit, und wurde dann auch zum Studium delegiert. Aber das war dann nichts, mit zwei kleinen Kindern zu Hause und Stipendium, das hat hinten und vorne nicht gepasst. Das habe ich dann sein lassen und stattdessen meinen Meister gemacht, drei Jahre, berufsbegleitend.

Armeezeit mit Grundwehrdienst hatte ich nicht.

Aber ich war dann zweimal als Reservist da, einmal sechs und einmal drei Monate. Hatte den Vorteil, dass die Bezüge weitergezahlt wurden, achtzig Prozent, meine Familie hatte also weiter Geld, war also nicht so schlimm. Nur, was für eine verlorene Zeit. Neun Monate verlorenes Leben. Weil, soviel Blödsinn wie da habe ich noch nie erlebt. So viel Blödheit. Wir haben Bordsteine weiß gestrichen und vorher das Gras grün gespritzt, weil ein Armeegeneral da lang fahren sollte. Mir hat ein Major das Fahrrad zerhauen, ich saß drauf, weil er zuvor gesagt haben wollte, das Fahrrad wäre nicht verkehrssicher. Wars dann auch nicht mehr. Einmal, ich habe immer gesagt, „Jawohl, Herr Unterleutnant!“, hat mich der Unterleutnant angeschnauzt und gesagt, „die Herrenzeiten sind vorbei. Das heißt Genosse Unterleutnant!“ Das war Armeezeit.

Im Funkwerk hat man mich dann so ein bisschen bedrängt,

dass ich doch in die Partei gehen könnte. Und weil mein Bürge einer war, den ich sehr geachtet habe, ein alter Mann, der wirklich den Krieg miterlebt hat und auch erzählen konnte, wie es war, das hat mich doch sehr beeindruckt, und da habe ich mir gesagt, da könnte man eigentlich zu stehen, zu den Zielen, die der genannt hat, warum er Kommunist geworden ist. Also diese Ziele, die würde ich auch heute noch vertreten, und ich bin dann in die Partei gegangen. Um 1979, 1980 herum war das. Da hat mein Schwiegervater noch mächtig auf mir rumgehackt und gesagt, „wie kannst Du das nur machen.“ Ich sage, „wenn ich was verändern will, dann muss ich drin sein. Ansonsten kann ich nichts verändern.“ Weil, ich war ja mit einigen Sachen wirklich nicht einverstanden.

Ich bin dann, als Meister, zu Autotrans gewechselt, Möbeltransporte, In- und Ausland, und das war eine Arbeit, die hat mir richtig doll Spaß gemacht. Fünfzehn Autos, kleine Werkstatt, vierzig Möbelpacker. Hatte am Anfang ein bisschen Schiss, Möbelträger sind ja nicht gerade die einfachsten. Aber, ich hab mich mit den Leuten sehr gut verstanden und hatte vollkommen freie Hand, wer fährt was, wer repariert was, und musste nur einmal die Woche zum Rapport. Als ich dort aufhörte, haben mir die Kollegen ein Holzauto geschenkt, mit ihren Unterschriften, das habe ich heute noch.

Und wir hatten natürlich außer unserem Rapport auch unsere Parteiversammlung. Und ich hatte bei mir Leute, die Ausreiseanträge gestellt hatten, und nun hat man natürlich versucht, mich auszuhorchen, und da hat man mich stark bedrängt. Wirklich stark bedrängt. Bis ich dann richtig schön die Schnauze voll hatte. Da holte mich der Parteisekretär nach Johannistal und wollte dann loslegen über die Ziele der nächsten Jahre, und dann habe ich ihn angeguckt und gesagt, „reden wir doch erst mal über die Probleme. Und ich habe ein ganz großes Problem.“ „Welches?“ Ich sage, „ich habe Leute bei mir, die einen Ausreiseantrag haben, Ihr wollt immer von mir wissen, wie die sind, was die machen, und warum, und warum ich sie nicht überzeugen kann. Ich kann sie nicht überzeugen. Wenn einer in Rauchfangswerder ein Haus hat und versucht, seine Dachrinne zu machen und keine Plastedachrinne kriegt, und der nebenan, irgendein hoher Politiker, eine Kupferdachrinne dran hat, dann fehlen mir die Argumente“, sage ich. „Wenn Ihr von mir wissen wollt, darf der einen Pass kriegen? Das kann ich Euch nicht beantworten.“ „Das musst Du uns beantworten.“ Ich sage, „wenn ich diese Sachen beantworten soll und Ihr mir keine Argumente gegen Ausreiseanträge gebt, also wie ich die Leute überzeugen kann, dass sie hier bleiben, dann bin ich verkehrt hier. Dann erkläre ich hiermit den Austritt.“ Bin aufgestanden und gegangen. 1987 war das. Da war ich aus der Partei raus.

Und dann kam 1989.

Ich hab‘s nicht begriffen. Ich hab‘s einfach nicht begriffen. Bin an dem Tag nicht arbeiten gegangen, bin an die Baumschulenstraße Ecke Sonnenallee und hab mich da hingestellt und hab nur zugeguckt, wie die da rüber fahren, wie idiotisch die sind. Und da habe ich erst mal gemerkt, dass dieser Staat absolut kurz vor dem Zusammenbruch war. Nicht von der wirtschaftlichen Seite, sondern von der menschlichen. Die Menschen waren ja nicht mehr bereit, weiterzumachen. Und das war wirklich die Mehrheit. Und da habe ich drei Stunden gestanden. Und dann habe ich sehr lange gebraucht, um das zu verarbeiten. Ich glaube, ich hab das bis heute nicht geschafft.

Der Gedanke, jeder nach seinen Fähigkeiten und jeder nach seinen Leistungen, ist einfach der bessere. Aber die Menschen, der Mensch ist so geschaffen, wenn er was hat, will er immer mehr. Das schlimmste Raubtier auf der Welt. Und, ich glaube nicht an den lieben Gott, aber ich glaube daran, dass ein Mensch mit anderen Menschen vernünftig umgehen muss.

» hier bin ich geboren, Text und Fotografie, veröffentlichte Arbeiten