So alt wie ich (2020)
Eine Arbeit in Text und Bildern, entstanden 2019. Der Text und ein Bild wurden im Januar 2020 in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ veröffentlicht. Die vollständige Arbeit war im Mai 2020 im Schaufenster der Torstr. 61 in Berlin Mitte zu sehen. © Portrait von Erna Esther Löw 1942: Shimon Lev
Erna Esther Löw war sechsundvierzig Jahre alt, als sie starb. So alt wie ich, als ich ihren Namen auf einem der Stolpersteine vor dem Haus der Thomasiusstraße 11 in Berlin Moabit las. Von dort wurde sie im Mai 1943 zusammen mit ihrem Mann Nuchem und ihrer Tochter Liane deportiert. Alle drei starben in Auschwitz. Ihr Sohn Willy überlebte.
Wusste sie, dass sie keine Zukunft haben würde? Wenn ja, seit wann? Seit dem 9. November 1938, als die Gestapo nachts vor der Tür stand und nach ihrem Mann fragte? Seit dem 19. September 1941, als sie den „Judenstern“ tragen musste? Seit dem 24. April 1942, als sie keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen durfte? Was fühlte sie am 17. Mai 1943, auf dem Weg von der Thomasiusstraße 11 zum Güterbahnhof Berlin Moabit. Auf dem Weg zu dem Zug, der sie nach Auschwitz brachte.
Seit meiner Kindheit war Auschwitz für mich Schrecken und Anziehung zugleich. Schrecken gegenüber der unendlichen Grausamkeit und Ohnmacht, die dort zu Hause waren. Anziehung durch Fragen danach, wozu Menschen fähig sind und was sie ertragen können. Mit der Geburt meiner Kinder kam Angst dazu. Angst, sie nicht schützen zu können. Davor, ausgegrenzt zu werden. Davor, angepöbelt und geschlagen zu werden. Davor, in einen Zug steigen zu müssen, der sie an einen Ort bringt, an dem sie umgebracht werden.
Beschäftigt von dieser Angst war ich vor einigen Jahren in die Gedenkstätte Auschwitz gefahren. Unfassbar die heutige Leere und Stille dort. Unmöglich, fotografische Bilder für das zu finden, was dort geschah. Ein Bild fand ich, auf der langen Zugfahrt dorthin. Nachdem ich kurz eingeschlafen und mit Schrecken wieder aufgewacht war, fotografierte ich bei einem Blick aus dem Fenster meine Angst.
Den Namen Erna Esther Löw kannte ich damals noch nicht. Schicksale wie das ihre geben Auschwitz persönliche Namen. Das ist auch Menschen wie Astrid Vehstedt zu verdanken. Seit Mitte der achtziger Jahre lebt sie in der Thomasiusstraße 11, genau zwei Etagen über der früheren Wohnung der Familie Löw. 2013 folgte sie der Einladung einer Nachbarschaftsinitiative, Stolpersteine in ihrer Straße zu verlegen. Über die internationale Gedenkstätte Yad Vashem nahm sie Kontakt zu Shimon Lev auf, dem Enkelsohn von Erna Löw. Von Tel Aviv aus hatte er fast zeitgleich begonnen, dem Schicksal seiner Familie nachzugehen. Astrid Vehstedt fragte ihn um Erlaubnis zur Verlegung der Stolpersteine, sie lud ihn ein und half, Briefe der Familie aus den Jahren 1940 bis 1943 wieder lesbar zu machen und einzuordnen. 2014 unterstützte sie ihn bei der Realisierung des Dokumentarfilms „Bei uns nichts Neues“, in dem heutige Bewohner der Thomasiusstraße 11 aus diesen Briefen vorlesen.
Was bleibt nach einem Besuch der Gedenkstätte Auschwitz, was von dem Wissen um Einzelschicksale des millionenfachen Mordes? Betroffenheit, Mitgefühl, Trauer. Und die Verpflichtung zur Achtsamkeit, nicht zu einem Täter zu werden. Das mag angesichts der Grausamkeiten der Täter von Auschwitz zunächst „leicht“ erscheinen. Es erscheint schwieriger, sobald Fragen nach dem Woher und Warum von Auschwitz den Raum betreten. Und sobald Fragen nach den Grenzen zwischen Nicht-Täter-, Mit-Täter- und Täterschaft auftauchen.
Meine jüngste Tochter, noch nicht zehn Jahre alt, sah neulich im Fernsehen eine kindgerechte Dokumentation über den zweiten Weltkrieg. Anschließend fragte sie, ob die Deutschen wirklich so schlimm waren und fügte hinzu, dass sie nicht so sei. Wir sind in der Tat nicht für das verantwortlich, was vor unserer Geburt geschah. Unsere Verantwortung liegt in der Art und Weise, wie wir mit Vergangenheit umgehen und wie wir unsere Gegenwart und damit Zukunft gestalten.
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