Die Besteigung eines Berges. Eine Gesprächskollage (2023)
Eine Familie erzählt von der Alkoholsucht. Gesprächskollage nach einer gleichnamigen Kurzgeschichte. Veröffentlicht im Februar 2023 in der Tageszeitung „Neues Deutschland“.
Es unterhalten sich: Ein Mann, Ende sechzig. Sein Bruder. Seine Schwägerin. Seine Tochter.
Mann: Ich konnte eine halbe Flasche austrinken, da habe ich erst einmal gefragt, fangen wir jetzt an? Wo andere schon das erste Mal vom Hocker gefallen sind.
Bruder: Wenn ich mit ihm was getrunken habe, dann, weil es Spaß gemacht hat. Weil man ein bisschen lustig sein wollte.
Tochter: Ich will nicht. Ich trink‘ so was nicht. Ich komm‘ nicht ran.
Die Starken und die Schwachen
Mann: Wir hatten den Müller hier, Bauleiter, so ein zweihundert Kilo-Bulle. Hat einen Fahrer gehabt, mit so einem Wolga kam der angedampft, wollte irgendwas von uns. Kam und packte erst mal gleich drei Pullen auf den Tisch, musstest also, solltest jetzt hier besoffen gemacht werden, damit du die richtigen Entscheidungen triffst. Na ja, gut. Die ersten zwei Pullen ausgetrunken, habe ich gesagt: Geh mal rüber, bring mal noch zwei. Und dann musste der Wolga an die Tür, damit das keiner gesehen hat, und dann haben wir Müller da reingeschoben. Wir haben auch einen sitzen gehabt, aber wir konnten gerade laufen.
Bruder: Die kannten sich alle auf du und du und wussten auch jeder, was er trinkt, und gleich immer wieder hingestellt, und wenn ich dazu kam, habe ich gleich was gekriegt, also es war, hatte auch was Anheimelndes. Kommst gerade aus dem Betrieb, wo alles mehr oder weniger ins Wanken geraten ist, wo die Existenz der nächsten Wochen und Monate auf dem Spiel steht, und nicht mehr klar ist, und dann kommst du in so eine Atmosphäre, wo du dich eigentlich fast wohl fühlst.
Mann: Es kam immer so, entweder aus der Stimmung heraus, oder aus’m Frust heraus. Zum Beispiel, ich hab‘ den Kleinen abgeholt, komme ich dahin, und mit einem Mal sagt die Erzieherin: Ich darf Ihnen Ihren Jungen nicht mehr geben, Ihre Frau hat das untersagt. Na ja.
Bruder: Ach, jetzt hat er Kummer. Ja, der hat’s schwer. Da ist es doch nicht schlimm, wenn wir mal einen trinken.
Mann: Dann gab’s auch mal mehr oder weniger vielleicht auch Langeweile, oder du hast beim Fernsehen, hat dir gefallen, ach, trinkst mal einen. Anstelle von so einer schlabbrigen Cola nimmst mal hier so einen kleinen Weinbrand drin oder Wodka oder so.
Bruder: Ich persönlich habe zu dieser Zeit überhaupt keinen Alkohol angefasst. Auch zum Beispiel als mein Vater gestorben war, war mir klar, hier darfst du keinen Tropfen anfassen, wenn du emotional nicht ausgleiten willst, und alles im Griff haben willst.
Mann: In dem Moment, wenn du, sagen wir, Probleme hattest, und du hast dir dann am Abend ein paar Dinger eingedreht, drei, vier, fünf Schnäpse, oder eine halbe Flasche oder so, dann fandest du das Leben eigentlich viel lockerer und lustiger.
Bruder: Er war der Stärkste. Der am besten vertragen hat. Wenn er am anderen Tag kam, und man hat ihm nichts angemerkt.
Der Aufstieg
Mann: Und solange du immer zur Arbeit gekommen bist, deinen Job gemacht hast, keine Auffälligkeiten waren, hat auch niemand angenommen, dass du ein Alkoholproblem hast. Hast ja auch eine relativ verantwortungsvolle Arbeit gehabt, Beratungen, Sitzungen.
Schwägerin: Wir waren in einer Gaststätte und haben einen Geburtstag gefeiert. Und dann wurde Schnaps geliefert, und dann habe ich gesehen, wie er zugreifen wollte, aber gemerkt hat, die anderen nicht, und seine Hand ganz langsam wieder zurückgezogen hat.
Mann: Nach dem ich dann auf Kurzarbeit war, da ist dann so eine gewisse Steigerung gekommen. Geld hatte ich genug. Gehalt ist weitergelaufen, und hier vorne war so ein alter Kiosk gewesen, da bin ich denn hin, und dadurch, dass du viel allein warst.
Tochter: Ich musste manchmal auch ab und an was für ihn holen gehen. Ich war noch nicht volljährig, aber die kannten einen, und dadurch hab‘ ich das immer gekriegt.
Mann: Dieses Du musst jetzt was trinken!, so weit war es noch nicht. Dass du jetzt den Tremor hattest oder den Jieper, oder, ich weiß nicht, wie es bei Alkoholikern in dem Sinne so ist, dass die jetzt unbedingt sich da was reinschütten müssen.
Schwägerin: Beim Arzt hing eine DIN A3-Sache unter Glas, mit dreißig Schritten. Wie man sich vom ersten Schritt zur Alkoholkrankheit hocharbeitet, sozusagen. Und da habe ich das so gelesen und. Ich hab‘ das Gespräch in der Richtung aber nicht gesucht, weil. Es war eben familiär, man hat nicht drüber gesprochen. Auch über andere Dinge halt nicht.
Tochter: Er hat dann abends immer was getrunken, also er hat dann schon jeden Tag getrunken.
Bruder: Ich habe dann immer nicht geklingelt, ich habe nur beim Vorbeifahren, weil das auf dem Weg zur Arbeit mehr oder weniger liegt, immer geschaut, ob von außen alles in Ordnung ist, so ein bisschen Unheil fühlend.
Tochter: Und er brauchte das ja dann auch, um normal zu sein.
Bruder: Ich hatte ihn auf eine Dienstreise mitgenommen, und dann ging das gegen Morgen, gegen vier oder fünf los, wo jemand vor meinem Zimmer, im Hotel dort, richtig Krach geschlagen hat. Ich war noch, hätte gern noch ein Stündchen geschlafen. Es ging aber nicht, denn plötzlich wurde an meine Tür geklopft und ein Hotelmitarbeiter sagte: Es tut mir leid, dass ich Sie stören muss, aber da unten ist jemand, der randaliert und der behauptet, Sie zu kennen und möchte zu Ihnen.
Wir sind dann nach Hause gefahren und unterwegs musste erst mal irgendwas getrunken werden, und er hatte dann kräftig zu tun, durchzuhalten, denn ich konnte ja nun nicht eine Bar aufmachen oder irgendwas, um nach Hause zu kommen.
Schwägerin: Und dann hat er in der Küche gestanden und geweint. Weil, also, er hat gemerkt, das ist ein Problem, und wenn hier nichts passiert, dann wird’s ein Riesenproblem. Er ist dann zu einem Arzt gegangen, irgendwo da hinten, und hat gesagt, mein Bruder hat ein Alkoholproblem, und der hat dann zu ihm gesagt: Das ist löblich, dass Sie sich dafür einsetzen. Aber wenn Ihr Bruder das nicht will, wenn er nicht will, dann hat das keinen Sinn.
Erster Halt
Mann: Ich habe mich geschnitten, so beim Rasieren, und das hörte nicht auf zu bluten. Und das ist ja ein Zeichen dafür, dass die Gerinnungswerte bei der Leber nicht funktionieren. Na ja, und da hat mein Bruder mich zur Doktorin gebracht.
Bruder: Das waren mehrere Anläufe. Und er hat sich natürlich auch mit Händen und Füßen gegen alles gewehrt, und auch runtergespielt und ist nicht gerade volltrunken dort angekommen. Wenn wir da waren, dann war er normaler Patient dort.
Mann: Und dann hat die mich eingewiesen, ins Krankenhaus.
Bruder: Dann saß er meistens in diesen langen Kitteln da, beinahe so wie OP-Kittel, aber hinten geschlossen, und immer einen Zugang gehabt auf dem Handrücken. Und dann: Was soll ich hier überhaupt! Die Ärzte haben uns klipp und klar gesagt, dass mein Bruder ein Alkoholproblem hat, und dass das nicht von schlechten Eltern ist. Aber er nahm das nicht an. Und er sagte: Wir haben schon ganz andere Sachen niedergesoffen, so nach dem Motto. Wir also wieder nach Hause. Auf eigene Verantwortung. Ja, ja.
Zweiter Halt
Bruder: Und während ich da telefoniere, höre ich schon im Hintergrund, wie die Türen alle auf und zu gehen, klapp, klapp, klapp, klapp. Ich hatte ja Zugang zur Wohnung, hatte alles beseitigt, und er kam dann nur zu mir, wurde recht deutlich und sagte: Du pass mal auf, wenn ich hier nicht gleich was kriege, ja? Was habt Ihr mit meinem ganzen Zeug gemacht?
Morgens um zwei, um drei, er war immer wieder aggressiv so ein bisschen gewesen, stand er dann vor mir und sagt: Wenn ich nicht gleich was kriege, dann hau ich Dir jetzt in die Fresse.
So gegen morgens um sechs muss es dann gewesen sein, rüttelt mich jemand. Es war mein Bruder: Steh mal uff hier, werd‘ mal munter, musst mich wegfahr’n hier. Das bringt nichts.
Plateau
Mann: Da haben die mir irgendwelche Medikamente verpasst, hatte ich irgendwie so ein Blackout gehabt. Da haben die mich da irgendwo noch hingefahren, auf so eine Intensivstation oder so.
Bruder: An diesem Nachmittag haben sie dann noch mal mit mir gesprochen und gesagt, ja, gehen Sie noch mal zu ihm. Das wird’s wohl gewesen sein. Na ja, dann bin ich rein und hab ihn da liegen sehen. Wo rechts und links die Vorhänge zugezogen waren.
Tochter: War ja damals so richtig auf der Kippe. Schafft er es oder schafft er es nicht.
Bruder: Und am nächsten Nachmittag, da lag er da, sie haben gerade was an ihm gearbeitet, und er guckt mich so an, und sagt: Na da bist Du ja wieder, war ja eine scheiß Nacht, war das hier. Aber wenn die meinen, dass die mich hier klein kriegen, denn werden die sich noch umgucken.
Mann: Dann war ich ja so ein bisschen länger drin. Aber, irgendwo hast du ja auch gemerkt, es bringt ja nichts. Du verdrängst irgendwas, aber tust es ja nicht damit lösen. Und, was für blöde Entscheidungen du im Suff getroffen hast!
Der Abstieg
Bruder: Und dann stand irgendwann die Entlassung an. Da sind wir vor die Tür vom Krankenhaus gekommen, und da sagt er: Wo ist mein Autoschlüssel? Ich sage: Hier. Hat er seine Autoschlüssel genommen, ist eingestiegen.
Tochter: Er kam dann nach Hause und er hat dann, was heißt Entziehung, Entziehung hatte er ja nicht gemacht, also er hat von heute auf morgen aufgehört.
Bruder: Und nach mehreren Wochen, als ich ihn mal besucht habe, sagt er: Ich hab’ Dir ein Bier mitgebracht, wenn Du eins trinken willst, trinkst doch gerne mal ein Bier. Ich dachte: Geht das wieder los? Hat er mir das hingestellt, ich mein Bierchen getrunken, er hat daneben gesessen, sein Wasser getrunken, und da war mir irgendwie klar, jetzt muss es doch irgendwie geklappt haben.
In der Ebene
Bruder: Natürlich gibt es immer wieder mal so einen Punkt, wo du gefragt wirst: Weißt Du denn, dass er wirklich nichts mehr trinkt? Kann doch nicht sein, der wird doch sicherlich, und so. Ich sage: Ich weiß nichts, und ich muss dem vertrauen.
Später habe ich mal begonnen, die eine oder andere Episode zu erzählen. Und er sagte immer zu mir: Mensch, was Du so weißt. Ich kann mich gar nicht dran erinnern.
Mann: Man weiß, dass man einen Hieb weghat. Nicht umsonst haben die mich ja berentet.
Ich brauch’s einfach nicht. Wüßte nicht, warum ich’s trinken sollte.
» Text, veröffentlichte Arbeiten