Hello again (2023)
Wiedersehen mit einem Dorf in Brandenburg. 2012 war im ex pose-Verlag das Buch „Bye-bye, Belyn“ erschienen. Es erzählt in Fotografien von dem Leben Jugendlicher in einem Dorf in Brandenburg. Der nachfolgende Text entstand im September 2023 im Rahmen der 2. Lausitzer Fototage. Er wurde im Oktober 2023 in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ veröffentlicht.
Es war ein Montagnachmittag, spätsommerlich warm, in drei Tagen würde der Herbst beginnen. Hinter mir lagen die Autobahn, eine Kleinstadt, mehrere Dörfer, bisher hatte ich alles wiedererkannt. Jetzt aber zeigte mir das Navi einen Weg, von dem ich bald wusste, dass er falsch war. Vor mir taucht eine Abzweigung auf, die ich kenne. Ich folge ihr und lande wenige Minuten später dort, wo ich vor 16 Jahren das letzte Mal gewesen war.
Warmes Licht, Stille, ab und an ein leichter Windhauch. Belyn liegt zwei Autostunden entfernt von Berlin, hat um die hundert Einwohner, eine Bushaltestelle, einen Festplatz, eine Autowerkstatt, einen See mit Badestelle. An der Kreuzung des Dorfes steht eine Eiche.
Lydia. Ich hatte sie 2005 kennengelernt, sie war die erste der Jugendlichen dieses Dorfes gewesen, die ich nach ihrem Leben befragt hatte, nach ihren Wünschen und Träumen, und sie war die erste gewesen, die ich mit meiner Kamera begleitet hatte. Damals war sie 21, studierte in Sachsen-Anhalt Verwaltung und lebte, wenn sie nicht studierte, im Haus ihrer Eltern. Nach dem Studium wollte sie ganz zurückkehren, wieder in dem Dorf ihrer Kindheit leben.
Lydia ist heute Ende 30. Ihr Wunsch nach Rückkehr hat sich erfüllt: Sie hat sich in Belyn ein Haus gekauft – keine 30 Meter von ihrem Elternhaus entfernt, getrennt durch einen Feuerwehrturm und das dazugehörige Gerätehaus. Sie baut das Haus zusammen mit ihrem Freund aus. Bis es fertig ist, wohnen sie in einer Mietwohnung ein Dorf weiter. Vielleicht können sie das Erdgeschoss im nächsten Sommer beziehen.
Neu sind auch Leo, Theo und Rino, ein schwarzer Friese, ein brauner Haflinger und ein weißer Tinker. Der Stallbereich liegt neben dem Haus ihrer Eltern. Morgens vor der Arbeit bringt sie die Pferde auf die Koppel, reinigt den Stall, bereitet das Futter vor, das ihr Vater tagsüber verfüttern wird. Dann dreht sie eine Runde mit den Hunden, mit Aron, der bei ihren Eltern wohnt, und Lexter, den sie vor zehn Jahren aus dem Tierheim geholt hatte. Lexter ist heute 16 Jahre alt, auf dem Hinweg sieht man ihm sein Alter an, den Rückweg legt er beschwingt zurück.
Nach dem Versorgen der Tiere fährt sie zur Arbeit. Sie liebt es, die Erste zu sein, lüftet, kocht Kaffee. Die Arbeit besteht aus Schreibtisch, Rechner und Zahlen. In Vollzeit. Sie liebt Zahlen, auch die hohen. Zahlen diskutieren nicht.
Dann fährt sie zurück zu den Tieren, an manchen Tagen folgen Ausritte, an anderen Reitstunden. Dann Hausbau, dann Schlafen und am nächsten Morgen wieder aufstehen. Um fünf.
Im Sommer ist alles leichter. Wenn es hell ist und sie die Pferde ohne Stirnlampe auf die Koppel bringen kann. Wenn das Wetter und damit das Ausreiten und der Reitunterricht verlässlicher sind. Eine Reithalle gibt es nicht.
Urlaub? Vier Tage Ostsee waren das längste und weiteste in den letzten Jahren. Nordsee wäre noch mal schön, aber länger und weiter will sie nicht, wegen der Pferde. An die Ostsee hatten sie Lexter mitgenommen, damals lief er noch viel.
Auf dem Weg zur Arbeit Nebel über den Feldern. Auf dem Parkplatz fragt sie mich mit einem Strahlen in der Stimme, ob ich ihn gesehen hätte. Herbst wäre doch auch schön, sagt sie. Das Röhren der Hirsche habe auch schon begonnen.
Kinder will sie keine. Wo sollten die auch bleiben, bei ihrem Tagespensum? Aber noch ist auch Zeit sich umzuentscheiden. Ihr Freund ist vier Jahre jünger als sie. Das beschäftigt sie manchmal. Für Männer tickt die biologische Uhr viel langsamer.
Christiane, die Mutter von Lydia, ist Ende fünfzig, lebt seit der Kindheit in dem Haus, das früher das ihrer Eltern war und heute ihres ist. Ihre Mutter kam ums Leben, als sie 20 und mit Lydia schwanger war. Ihr Vater hat lebenslanges Wohnrecht, lebt inzwischen aber in einem anderen Haus, zusammen mit seiner neuen Frau.
Christiane empfängt mich nach all den Jahren ebenso offen und freundlich wie ihre Tochter. Sie hat eine chronische Lungenkrankheit und braucht nachts Sauerstoff. Sie arbeitet als Obst- und Gemüseverkäuferin in der nächstgrößeren Stadt, sechs Tage die Woche, dienstags ist frei. Der Tag beginnt um acht mit Standaufbau und endet ab halb fünf mit Standabbau. Die Ware stammt von einem regionalen Produzenten. Beim Auf- und Abbau bekommt sie Hilfe aus dem Ort, ohne Vertrag und ohne Bezahlung. Die liegt im Kontakt, in der Arbeit, in der Struktur, die die Arbeit gibt. Wenn die Hilfe ausbleibt, schafft sie es allein. Zusammen ist es aber schöner. Im Stand befindet sich eine Sitzbank – die braucht sie, über Stunden Stehen geht nicht mehr. Mittagessen ist hektisch, ebenso Kaffee holen und aufs Klo gehen. Im Winter hat sie Pause und kann sich ausruhen. Das Haus merkt das auch: Im Sommer bleibt vieles liegen, im Winter ist Zeit zum Aufräumen, Saubermachen und Reparieren.
Den Ausspruch „Alles für Deutschland“ von Björn Höcke im Kopf, frage ich nach den guten Wahlprognosen für die AfD im Land Brandenburg. Zuerst hatte ich mich nicht getraut, befürchtet, dass unser Kontakt mit dieser Frage abbrechen könnte. Sie aber meint, ich kann sie alles fragen. Sie geht nicht wählen. Fühlt sich nicht repräsentiert, wenn sie eine Partei wählt, die dann mit einer oder zwei anderen Parteien, die sie nicht gewählt hat, eine Koalition eingeht. Überhaupt: Politiker arbeiten nicht. Sie bedienen sich und lösen keine Probleme. Die AfD ist da aus ihrer Sicht keine Ausnahme, auch wenn sie mit manchem Recht habe, zum Beispiel damit, dass nicht so viele Ausländer ins Land können. Wenn sie wüsste, wie ein Staat besser aufgebaut wäre, würde sie das sagen, sie weiß es aber nicht.
Neulich standen zwei Männer mit Fahrrädern vor ihrem Fenster, es wurde schon dunkel. Ob sie ein Auto habe und sie in die Stadt fahren könne, ihre Fahrräder seien kaputt. Das fehlte noch, dass sie die jungen Männer in die Stadt fährt. Aber sie beschreibt ihnen den Weg. Dann tauchen die Fahrräder an der Kreuzung des Dorfes auf, ohne die Männer; dann werden die Männer irgendwo im Dorf gesehen. Sie ruft die Polizei. Die kommt, findet nichts und weist darauf hin, dass aktuell wieder Dörfer ausspioniert würden: Wo stehen wann welche Häuser leer? Wo gibt es einen Hund, wo nicht? Wo kann man ohne Gefahr einsteigen? Die Welt ist auch hier nicht mehr das, was sie einmal war.
Ein Mann und eine Frau im Gespräch miteinander, kurz vor dem Ortseingangsschild. Er am Straßenrand, an ein Fahrrad gelehnt, sie hinter dem Gartenzaun, beide mit grauen Haaren. Ich frage, wo die ehemalige Gaststätte ist und zeige das Bild, das ich irgendwann zwischen 2005 und 2007 gemacht hatte. Dort sähe es noch genau so aus, nur die Tür sei jetzt zu und die Gaststätte komplett geschlossen. Nichts gäbe es hier mehr, keine Einkaufsmöglichkeit, keine Gaststätte. Das Haus könne ich kaufen. Dann käme wieder Leben ins Dorf.
Der Mann begleitet mich bis zum Abzweig zur Gaststätte. Er kam 1946 als Sechsjähriger ins Dorf, von östlich der Oder. War nicht einfach, sagt er, war nicht einfach damals. Kinder hat er keine.
Die Frau sagt, früher war hier meterhoch Schnee. Jetzt kaum noch. Der Klimawandel. Dort, wo sie wohnt, ist es nach Sonnenuntergang stockdunkel. Die Straßenbeleuchtung beginnt erst kurz nach dem Ortsschild. Wenn der Hund anschlägt, weiß sie, dass was ist, aber was ist, weiß sie nicht. Raus gehen tut sie aber nicht. Ihre Tochter wohnt im Dorf, die kann sie anrufen, und dann kommt sie nachsehen. Aber die Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge hier sind wunderschön. Überhaupt mag sie den Sommer sehr, er könne noch bleiben, vor dem Winter graue ihr immer ein bisschen.
Hans, der Vater von Lydia, erzählt, dass bestimmt 20-mal am Tag der Bus nach Belyn kommt. Muss er, vertraglich vereinbart, auf dem Weg von der einen größeren Stadt in die andere und zurück. Meistens kommt er leer an und fährt leer ab. Dann geht Hans die Pferde füttern.
Am Morgen vor meiner Rückkehr nach Berlin laufe ich noch einmal durchs Dorf. In wenigen Stunden werde ich Ruhe und Natur eingetauscht haben gegen Lärm und Beton, werde nicht mehr jeden Menschen, dem ich begegne, grüßen können, werde keine Pferde mehr sehen, keine Hähne mehr krähen hören. Am Himmel schieben sich Wolken aufeinander. Regen kündigt sich an.
» Text, veröffentlichte Arbeiten