hier bin ich geboren: Anja H. erzählt (2025)
Anfang Juli 2025 im Rahmen der Portraitreihe „hier bin ich geboren“ unter dem Titel „Einfach laut“ in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ erschienen. Teil der Arbeit „hier bin ich geboren“ (Arbeitstitel, work in progress).
Geboren und aufgewachsen
bin ich in einem Dorf nordöstlich von Weimar. Wir wohnten in einem riesengroßen Haus, Gründerzeitstil, riesige Türen, riesige Fenster, ganz hohe Decken. Wir waren zu sechst, meine Eltern, meine beiden größeren Brüder, meine Urgroßmutter und ich. In der Nähe hatten wir einen großen Park. Das war unser Park, und in diesem Park lebten Pfauen. Die gehörten dazu wie die Eichen und die Buchen und der Ginkgo. So gehörten auch die Pfauen immer dazu.
Wenn du bei uns im Haus reingekommen bist, war da ein ziemlich langer Flur mit rotem Linoleum, und an der Seite waren so weiße und schwarze Fliesen, im Wechsel. Und an der Wand hing ein riesengroßer Hirschkopf. Einmal habe ich mich mit meinen Brüdern ziemlich doll gestritten, da war ich vielleicht sechs oder sieben, wir teilten uns ein Zimmer, und die haben mich rausgeschmissen. Meine Eltern waren nicht da, und dann hab‘ ich die Nacht im Flur, bei dem Hirschkopf verbracht. Bis dahin hatte ich immer auch ein bisschen Angst vor diesem riesengroßen Kopf, aber er war der Einzige, der da war, und er wurde in dieser Nacht mein Freund.
Als ich elf war, 1980, sind wir umgezogen, in einen Ort oberhalb von Weimar. Da hatten wir dann ein eigenes Haus mit einem eigenen großen Garten. Für mich eine Katastrophe. Mir hat da einfach alles gefehlt, was von Bedeutung für mich war. Der Hirschkopf. Der Park. Meine Urgroßmutter.
Ich musste dann auch in eine neue Schule. Die war viel größer, und der Umgangston war viel rauer. Vorher, bis zur vierten Klasse, hatte ich eine Lehrerin, Frau Kaufmann, die war toll. Die hat uns die Welt gezeigt, hat uns mit zu sich nach Hause genommen, uns ihren Garten gezeigt, uns Dinge erklärt, Sachen gezeigt, die nicht so normal im Unterricht behandelt wurden, und alles mit einer totalen Selbstverständlichkeit. Wir waren Jungpioniere, und mit ihr fühlte sich das nicht falsch an. Und auch später irgendwann Thälmannpionier zu werden, fühlte sich mit ihr nicht falsch an. Sie hat uns alles ermöglicht, was möglich war. Und hat nicht gleich mit Grenzen angefangen. Ganz und gar nicht. In der neuen Schule hatte ich keine einzige Lehrerin, keinen einzigen Lehrer, der so war.
Und dann, mit fünfzehn, ich erinnere mich sehr genau,
habe ich gedacht, was wollen die hier eigentlich alle von mir. Wollen die über mich bestimmen, wollen die mir sagen, was ich zu denken und welchen Weg ich zu gehen habe in meinem Leben? In dieser Zeit habe ich begriffen, dass es ein System gibt, ein politisches System, das die Menschen gerne in eine bestimmte Richtung lenken möchte. Das ist wahrscheinlich, in jedem Land ist es wahrscheinlich so. Ich weiß es nicht.
Ich fing dann an, riesengroße Ohrringe zu tragen, meine Haare sehr struppig, so mit Haarspray und sehr wild, und trug wahnsinnig enge Hosen und Lederjacke und habe so demonstriert, ich bin nicht so, wie ihr mich wollt. Meine Klassenlehrerin meinte dann vor der ganzen Klasse, ich würde total nuttig rumlaufen. Und das hat natürlich alles nur noch schlimmer gemacht. Also ich wurde dann auch rebellisch in meinen Umgangston und hatte dann auch keine Lust mehr, freundlich zu sein zu dieser Lehrerin.
Dann bin ich in so eine Mopedklicke gekommen, alles Jungs im Alter meines drei Jahre älteren Bruders, zum Teil aus seiner Klasse. Er konnte mit denen nix anfangen, und ich war mittendrin. Wir hatten immer so einen Platz im Dorf, wo wir uns jeden Tag trafen, und dann natürlich, jeder kam mit seiner Karre, und je lauter, desto besser. Und da hatte ich das Gefühl, ich bin nicht allein; ich bin in einer starken Gruppe. Wir waren nicht kriminell oder so, und auch nicht böse, wir waren laut! Einfach laut. Um zu zeigen, wir gehören zusammen, und wir haben Kraft. Und ich war sicher, wir sind richtig, und die anderen sind falsch.
Nach der Schule wollte ich Maskenbildnerin werden, unbedingt. Das ging über eine Friseurausbildung. Also machte ich in der Neunten ein Praktikum, habe den Damen die Dauerwelle gelegt und Haare gewaschen und auch gelernt, wie man Haare schneidet. Nach der Zehnten konnte ich da trotzdem nicht hin. Der Laden hatte nur eine Lehrstelle, und die bekam die Tochter der Chefin.
Ich bekam dann eine Ausbildung als Kellner,
das hieß damals so, im Hotel Elefant. Das war DAS Hotel in Weimar, aber passte überhaupt nicht zu mir. Ich hab‘ die Ausbildung mit Hängen und Würgen absolviert und bin dann in dem Hotel an die Bar gekommen. Das fand ich dann schön, wie so ein richtiger Barkeeper, Mixgetränke und wie man ein Fass Bier anschlägt und wie man Bier zapft. So handfeste Sachen, das fand ich schön. Bis die Frau von irgendeinem Restaurantchef diese Stelle wollte und ich einfach abgesägt wurde. Und dann dachte ich, wisst ihr was, dann geh‘ ich. Dann war‘s das. Und bin gegangen.
Und dann erinnerte ich mich an den Kindergarten, in dem ich als Kind war. Den hatte ich sehr geliebt. Also bin ich dahin, Ende 1988, und habe gefragt, ob ich da arbeiten kann. Und die stellten mich prompt ein. Die brauchten irgendwie gerade jemanden, und dann habe ich da, ungelernt, gearbeitet. Und das war wunderwunderschön. Das mochte ich sehr, mit den Kindern zu arbeiten, mit meinen Kolleginnen. Ich hätte da auch eine Ausbildung machen können, aber dafür hätte ich in die Partei gemusst. Und meine Kolleginnen haben gesagt, „mach das einfach, ist nicht schlimm. Du brauchst da überhaupt nichts zu tun, du bist einfach nur Mitglied, fertig“. Und für mich war das ein Unding. Ich dachte, das geht gar nicht für mich. Ich hätte gern mit den Kindern gearbeitet, ich hätte auch gern die Ausbildung gemacht. Ich wär‘ niemals in die Partei gegangen. Niemals.
Ein paar Monate später trennten sich meine Eltern, ließen sich scheiden. Und da dachte ich, jetzt hast du hier alles verloren, was wichtig für dich war. Und als dann ein Freund sagte, „weißt du was, wir hauen einfach ab“, hab‘ ich gesagt, „ich mach‘ das“. Jeder von uns nimmt so eine alte EMW, und damit fahren wir durch Tschechien, durch Ungarn, über Österreich, in den Westen. Es hatte mich nie wirklich gereizt, in den Westen zu gehen. Wofür? Mein Zuhause war ja in Weimar. Aber, ich hatte es so satt. Ich hatte es einfach so satt. Dieses Bevormunden und dieses, du erlebst, wie die Dinge, die dir wichtig sind, nicht klappen oder kaputt gehen, und du kannst irgendwie gefühlt nichts dagegen tun. Also hau‘ einfach ab. Versuch‘ irgendwie, was ganz anderes zu machen.
Bis wir losgefahren sind,
bin ich noch zu diesen Montagsdemos gegangen. Auf dem Herderplatz ist eine große Kirche, die Herderkirche, und obwohl ich nie in der Kirche war, war das ein Zufluchtsort. Also wir konnten dort für unsere Freiheit demonstrieren. Einmal ging ich mit einem Kumpel aus der Motorradklicke hin. Überall Staatssicherheit, du hast sie erkannt an ihren Trenchcoats und wie sie da überall verstreut standen. Und wir wurden von der Polizei angehalten, und der Kumpel, der war echt dreist und hat gesagt, „ach, hören Sie mal, Herr Wachtmeister, ich hab‘ gehört, hier ist irgendwo `ne Demo. Wissen Sie was davon“? Und dann wollten die erstmal unsere Ausweise sehen. Und ich dachte, wenn jetzt mein Ausweis weg ist, wenn ich jetzt mein Visum nicht abholen kann! Wir hatten ein Visum für Bulgarien beantragt, mit dem wollten wir über Tschechien bis nach Ungarn kommen.
Mitte Oktober sind wir dann losgefahren. An einem Freitag. Nachts um zehn. Und irgendwann standen wir an der Grenze zu Österreich, und die Grenzposten haben uns gefragt, „wollt ihr rein? Wenn ihr einmal drin seid, gibt es kein Zurück. Ihr kommt nicht mehr zurück“.
Als wir in Wien ankamen, war da ein Holzhäuschen, und ich weiß noch, da mussten alle ihre Ausweise abgeben. Und ich dachte, ich lass mir doch nicht schon wieder sagen, was ich zu tun oder zu lassen habe, und habe einfach gesagt, „ich hab‘ keinen Ausweis mehr. Ich hab‘ den verloren“.
Und da war auch so eine Wand, eine Pinnwand, da waren überall Fotos von Häusern, von Autos, und überall hingen die Schlüssel, also die Leute haben wirklich ihr Hab und Gut zurückgelassen, mit Anschrift, mit einem Foto vom Haus, das jetzt leer steht, weil sie gegangen sind. Da hat‘s mir zum ersten Mal so richtig den Atem verschlagen. Mein Gott, was tun wir hier alle? Und was lassen wir alles zurück, wofür?
Heute lebe ich im Rheinland.
Und immer, wenn ich im Sommer in Weimar bin, denke ich: Ich zieh` wieder her. Und wenn ich im Winter in Weimar bin, denke ich: Auf gar keinen Fall. Weil, der Winter ist hier im Rheinland viel kürzer, es ist hier viel schneller warm und viel schneller grün.
Auch wenn damals viel Kopflosigkeit dabei war, und viel Zorn, viel Unwissenheit, und viel Jetzt-aber-erst-recht, bin ich irgendwie stolz darauf, dass ich das gemacht habe. Das fühlt sich gut an. Und es fühlt sich sehr gut an, dass ich immer nach Weimar kann, ich bin sehr dankbar, dass die Mauer weg ist, ich bin sehr dankbar, dass die Grenzen weg sind, und ich bin sehr dankbar, dass ich meine Eltern bald wiedersehen durfte. Weihnachten 1989 war eins der schönsten Weihnachten überhaupt.
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